· 

TEIL II: 3. WOCHE – SPANIEN: BUEN CAMINO

13. - 19.03.2022

2. Tag: Von Lourenza nach Gontan

Vom Stören großer Geister...

Am nächsten Morgen starten wir, wo wir am Vortag aufgehört haben: Gefühlt geht es bergauf, bergauf und nochmals bergauf. Wir unterhalten uns rege und das Kind teilt mir in aller Ausführlichkeit seine Pläne mit, eine spanische Pilgerkatze zu adoptieren. Natürlich wird kein Detail der Planung ausgelassen: Ich weiß nun genau, wie diese spanische Pilgerkatze aussieht, wo man sie herbekommt und was sie alles für ein glückliches Leben in Tübingen benötigt. 

Selbst auf meinen Einwand, dass die Einfuhr von Tieren aus dem Ausland durchaus kompliziert sein könne, hat er eine Antwort: „Dann schreiben wir einfach dem Bürgermeister von Deutschland und bitten ihn um die Erlaubnis. Er kann das ja mit dem König von Spanien besprechen!“. 

Das Kind kommt doch in mancher Hinsicht nach seinem Papa: Auch er liebt einfache Lösungen!

 

Als es zu regnen beginnt, frage ich das Moggelchen, ob es nicht lieber seine Jacke anziehen möchte. 

„Nein, Mama!“, erhalte ich als Antwort. 

„Aber dann wirst Du nass werden...“, entgegne ich – in der Befürchtung mit dem aktuellen Wind am Ende des Tages eine Erkältung zu ernten. 

Aber der kleine Kerl winkt ab: „Ach, das ist nur Regen. Das stört doch keinen großen Geist...“ 

Da habe ich es wieder einmal: Große Geister kennen keine Schwierigkeiten und brauchen auch keine Jacke!

In Mondonedo entscheiden wir uns vor der Kirche, den ursprünglichen, längeren Weg zu gehen und auf die neue, kürzere Variante zu verzichten. Auf einer sehr wenig befahrenen Straße wandern wir weiter bergauf und machen an einem kleinen Friedhof Halt für das letzte Stückchen Hefezopf in unseren Essensvorräten.

 

Etwas weiter passieren wir zwei wunderschöne Pferde, die sich uns sogleich nähern. Wir sammeln ein wenig Gras und versuchen sie zu füttern. Das zutraulichere der beiden nimmt mit großer Vorsicht die Halme von meiner Hand. Sein Maul ist unglaublich zart und ich kann sein weiches Fell streicheln.

 

Das erste Mal in seinem Leben traut sich nun auch das Kindlein einem Pferd auf der flachen Hand Futter anzubieten. Ein klein wenig erschrickt er, als das Tier zu knabbern beginnt, aber es ist ungewöhnlich sanft, so dass er sofort Nachschub holt und weiter füttert. 

Herr oder Frau Sommer?

Am Nachmittag dann holt uns der Regen wieder ein. Kurz stellen wir uns unter eine Brücke, beschließen dann aber in der nahegelegenen Autobahnraststätte Schutz zu suchen. Dort entdecke ich eine Nachricht von Jessi, die mir mitteilt, welche Herberge in absehbarer Nähe geöffnet hat. Ich bin sehr dankbar für diese Fürsorge, denn noch bin ich nicht wirklich gut organisiert mit meiner Pilgerei.

 

Da der Himmel grau bleibt und weiter Wasser auf die Erde schickt, gönnen wir uns ein Stückchen Kuchen. Aus dem Fenster die Aussicht auf ein Ende des Niesels taxierend, bemerke ich Jessi, die in ihrer grünen Pellerine durch den Regen hastet. Ihre roten Gamaschen hüpfen dabei wie ein Sekundenzeiger durch den grauen Dunst: Tack, Tack, Tack... 

 

Unmittelbar muss ich an Patrick Süßkinds „Die Geschichte des Herrn Sommer“ denken: An Herrn Sommer, der bei Wind und Wetter in seiner Pellerine um den Starnberger See rennt und an den Erzähler, der ihm dabei eines Tages aus dem fahrenden Auto zuruft: „Aber Herr Sommer, so steigen Sie doch ein. Sie werden sich den Tod holen!“. 

 

Was für ein Stereotyp: „Sie werden sich den Tod holen!“. 

 

Ich frage mich, wie es wirken würde, wenn ich – Kuchen essend – aus der trockenen Autobahnraststätte ein „Sie werden sich den Tod holen!“ in den spanischen Regen riefe und ich beschließe im selben Moment, es lieber nicht zu tun...

Schnell schreibe ich Jessi stattdessen, dass wir im Warmen sitzen und sie herzlich willkommen ist. Aber die Nachricht erreicht sie erst etwas später, woraufhin sie sofort auf uns wartet, so dass wir gemeinsam bis zur Herberge in Gontan laufen. Ich bin wirklich froh über ihre Gesellschaft, denn den ganzen Tag sind wir niemandem begegnet.

 

3. Tag: Von Gontan nach Vilalba

In alter Frische...

Die Strecke von Gontan nach Vilalba ist kurz und einfach zu laufen. Für den dritten Tag ist das optimal, denn ein bisschen Erholung brauchen sowohl Beine, als auch Gemüt. 

Das Frühstück – ein Croissant, ein Stück Kuchen und kalte Tortilla – holen wir uns in einer Bar in Abadin, wo wir endlich auch den Spanier treffen, den wir in den letzten Tagen manches Mal aus der Ferne gesehen haben. Da wir lieber im Grünen essen, als in einer Bar, laufen wir gleich nach dem Bezahlen weiter und verlustieren uns erst an der nächsten Pferdekoppel an unseren Schätzen...

 

Als wir kurz nach zwei dann schon den Ortseingang Vilalbas erreichen, gehen wir zielstrebig zum Supermarkt und füllen großzügig unsere Vorräte auf. „Heute Abend machen wir uns ein Festmahl!“, plant das Kindchen mit Blick auf unsere Einkäufe. Den ersten wunderbar süßen und herrlich knackigen Apfel gönnen wir uns gleich auf der Parkbank wenige Schritte neben dem Supermarkt.

Zuerst kommt der Spanier und wenig später auch Jessi an unserer Bank vorbei. Ich weiß nicht, ob wir ihr zur Last fallen, aber wir hängen uns wieder an sie dran und übernachten in der gleichen Herberge. Bislang war ihre Wahl immer hervorragend – wieso sollte es dieses Mal anders sein?

 

Wir sind erneut die einzigen in der Unterkunft und können uns ungeniert in Küche und Wohnzimmer ausbreiten. Jessi bietet uns an gemeinsam eine Maschine Wäsche zu waschen und ich höre mich nicht „Nein“ sagen. Nach einer warmen Dusche in frische Kleider zu schlüpfen ist nach einem Tag Pilgern einfach unbezahlbar. 

 

Auf unserem Gute-Nacht-Spaziergang in die Kirche gleich neben der Herberge entdeckt das Kind noch eine weitere Attraktion: „Mama, schau mal, eine Statue in einer Statruhe!“. In Ermangelung einer Wortspielkasse werfen wir die 2 Euro für diesen kleinen Scherz in die Spendendose neben der Statrue...

4. Tag: Von Vilalba nach Miraz

Schritt für Schritt...

Am Morgen verabschieden wir uns von Jessi. Da sie noch nicht entschieden hat, wie weit sie heute läuft oder ob sie ihre Tour gar beendet, gehen wir davon aus, sie – zumindest in Spanien – nicht nochmals zu treffen. 

 

Werden wir stattdessen andere Pilgerbekanntschaften machen? Ich bin gespannt... 

Zeit dafür haben wir genug, denn eine Tagesetappe von etwa 35 km wartet auf uns. 

Und es dauert ja noch eine ganze Weile, bis wir in Santiago ankommen werden!

 

Zum Glück ist es auch heute wieder relativ eben und wir haben gutes Wetter. Weder Wind noch Regen noch zu starke Sonne: Es ist geradezu perfekt für die lange Strecke.

Unter freiem Himmel mit Blick auf eine kleine Marienkapelle, die von links und rechts von Bäumen gestützt zu werden scheint, genießen wir unsere kalten restlichen Nudeln vom Vorabend. Dabei kreuzt der Spanier erneut unsere Wege und wir wechseln tatsächlich ein paar Worte. Auch er möchte Miraz erreichen und ich bin gespannt, wer von uns beiden zuerst ankommt. 

 

Ehrlich gesagt, bin ich gespannt, ob wir überhaupt so weit kommen!

Sicherheitshalber rufe ich daher bei einer Herberge in Laguna – dem Dorf vor Miraz – an, um mich zu erkundigen, ob wir im Falle eines Falles auch dort nächtigen könnten. „Si, si se puede!“ - „Ja, ja Sie können!“ – ich kann also beruhigt weiterziehen...

 

Unterwegs begegnen uns heute viele Hunde. Die Spanier müssen Hunde lieben, denn gefühlt hat jedes Haus mindestens (!) einen. Ich kann das nicht nachvollziehen, insbesondere, weil die meisten weder schön noch freundlich zu sein scheinen. Außerdem legen Hunde keine Eier und geben auch keine Milch. Wozu also kann man einen Hund gebrauchen? 

Die Tiere scheinen meine Haltung zu spüren, denn ausnahmslos alle kläffen uns wild an. Aber keine Chance: Trotz unser Angst kläffen der Moggel und ich wie wild zurück! 

 

An einem Haus ohne Hund halten wir kurz an. Ein Schild „Sello“ zeigt uns an, dass wir hier unseren Pilgerpass stempeln lassen können. Diese kleine Pause wird uns guttun...

Als die Herrin des Hauses entdeckt, dass ich mit Kind unterwegs bin, ruft sie ihren Mann. Schon im Garten entdecke ich, dass er Künstler sein muss. Diese Ahnung bewahrheitet sich, als er uns mit viel Liebe einen Stempel mit Siegelwachs in unsere „Credencial“ drückt. 

 

Da das Moggelchen begeistert sein Tun beobachtet, dürfen wir seine kleine Ausstellung im Wohnzimmer begutachten und erhalten dann in der Küche noch einen großen Keks. Gestärkt machen wir uns an die letzten Kilometer und schaffen es tatsächlich bis Miraz.

 

In der einzigen, eiskalten und ungemütlichen Herberge warten wir dann – nach Pommes und Tortilla in der dazugehörigen Bar – vergeblich auf den Spanier...

 

Ich bin versucht zu denken, ich könne doch noch zu meiner alten Form auflaufen.

5. Tag: Von MIraz nach Sobrado dos monxes

In Heiligen Hallen...

Wir stehen das erste Mal auf dem diesjährigen Jakobsweg früh auf und laufen sofort nach dem sehr kargen Frühstück los. Den ganzen Vormittag über werden wir von Nebel und Niesel begleitet. 

 

Einziger Lichtblick sind die vielen Kühen und Schafe, die wir unterwegs beobachten können, auch wenn sie häufig von Hunden bewacht werden... Jetzt verstehe ich endlich, wozu man hier so viele Hunde benötigt! Die Spanier lieben eigentlich Kühe und Schafe und die Hunde sind nur zu Bewachung selbiger da...

 

In einer klapprigen Bushaltestelle suchen wir für eine kurze Mittagspause Schutz vor Nässe, Wind und Kälte. Ich habe wenig Hoffnung, dass sich das Wetter heute noch so ändert, dass wir das Draußen-Sein länger als nötig auskosten wollen. Aber ich sollte mich täuschen: Am Nachmittag wird es zumindest trocken, wenngleich nicht sonniger.

An einer Pferdekoppel finden wir im Gebüsch ein altes Hufeisen. Nach wochenlangem Hören von Bibi und Tina-Hörspielen ist der Moggel natürlich informiert über die Symbolik dieses Stückchen Eisens. 

„Mama“, fragt er. „Darf ich das mitnehmen?

Weil: Wo soll sonst jeden Tag unsere Portion Glück herkommen?“. 

Gute Frage – wie war das denn bislang ohne Hufeisen? 

 

Sicherheitshalber stecken wir es natürlich ein und als wir nach 25 km in Sobrado dos Monxes ankommen, erhalten wir tatsächlich einen fast schon sonnigen Blick auf das wunderschöne Kloster, in dem wir übernachten möchten.

Ich bin sofort wieder versöhnt mit diesem Tag!

Vor den Toren der in einem Teil des Klosters untergebrachten Herberge stehend werden wir herzlich von einem der 10 dort lebenden Zisterzienser-Brüder empfangen. Das Kindchen wird sofort mit Händisch und Füßisch sowie einigen Brocken Deutsch mit ins Gespräch eingebunden und dann darf es wieder einmal den Pilgerpass stempeln. 

 

Da der am Empfang arbeitende Bruder aus London kommt, erhalten wir in perfektem Englisch eine Einführung in die 2021 renovierte und wirklich fantastische Herberge. Ich bin froh, dass ich mich nicht mit meinem inzwischen nur noch mangelhaften Spanisch unterhalten muss und genieße das anregende Gespräch. Bislang sind wir allein, aber uns wird erneut die Gesellschaft unseres spanischen Pilgerfreundes angekündigt. Ob er es dieses Mal schafft?

 

Nach einer ausgiebigen Dusche und der Vorbereitung unseres Abendessens machen wir uns auf den Weg zum Supermarkt, um für den Morgen noch frisches Brot zu kaufen und da kommt er auch schon: Unser alter Bekannter aus Spanien... 

Direkt nach dem Essen nehmen wir teil an der Vesper der Mönche. Die Kapelle ist klein und schön beheizt. Durch das spärliche Licht ergibt sich eine wohlige Atmosphäre und der Gesang der Brüder ist so beruhigend, dass der Moggel ganz schläfrig wird und sich schnell in meine Arme kuschelt.

 

Ich verstehe kaum etwas von den Lesungen, aber genieße die Hingabe, mit der einer in der Runde singt: Die Augen geschlossen, die Stirn in Falten gelegt, den Mund so rund geöffnet, wie die pausbackigen Engelchen in den barocken Kirchen, sich wiegend im Takt – man kann Gott kaum andächtiger und liebevoller anbeten und das zu sehen, erfüllt auch mich mit Liebe. 

 

Die Herzen noch eingehüllt in diesen Gesang fallen wir in unsere Betten und schlafen schnell ein.

6. tag: Von Sobrado dos Monxes nach Salceda

heulen kannst du immer noch...

Der nächste Wandertag startet ruhig. Wir halten das erste Mal einen kleinen Schwatz mit dem Pilger aus Spanien und ziehen dann zügig los. Heute liegt eine längere Strecke vor uns und ich möchte keine Zeit verschwenden...

 

Gerade als sich der erste Hunger bei mir bemerkbar macht, ist die vor uns liegende Strecke schnurgerade und für längere Zeit einsehbar: Es geht deutlich bergab und auf der anderen Seite steil bergauf. 

 

„Oh nein, das hat mir gerade noch gefehlt!“, denke ich bei mir. „Auf diesen Berg da drüben habe ich ja sowas von gar keine Lust... Ich glaube, da brauche ich schnell ein großes Stück Kuchen, bevor ich weiterlaufe. Und gleich ein Stückchen Schokolade hinterher!“. 

 

Obwohl ich mich gesund und möglichst zuckerfrei ernähren möchte auf der Reise, kann ich hier nicht widerstehen. Ein derart nachvollziehbarer Grund für Süßigkeitenkonsum wird einem ja nicht jeden Tag geschenkt!

Also greife ich auch ein drittes Mal beherzt zu...

Je weiter wir aber den Berg hinabgehen, umso deutlicher wird, dass die Anhöhe auf der anderen Seite nicht halb so steil ist, wie sie von oben schien. Wenn ich ehrlich zu mir bin, ist es sogar relativ flach. Mein schlechtes Gewissen wächst...

 

Kaum sind wir am tiefsten Punkt des Tales angekommen, sehe ich: Das Jakobsweg-Zeichen führt uns nach links! Und dort ist es ... topfeben!

 

„Mann, mann, mann!“, schimpfe ich mit mir selbst, „Das war ja wieder mal wie im richtigen Leben. Da schaust Du möglichst weit voraus und was da kommt, scheint wie das Grauen in Person. Du sorgst und grämst Dich und bereitest Dich auf das aller Schlimmste vor... Triffst Entscheidungen aufgrund der aktuellen Perspektive...

 

Und dann hat das Leben doch ganz andere Pläne: Biegt völlig unerwartet ab und wird ganz leicht. Du hast Dich ganz umsonst gesorgt! Wirklich: Ganz umsonst!

Hättest doch einfach alles auf Dich zukommen lassen können... Und dann galant die Abbiegung genommen und Dir dabei noch jede Menge Nerven gespart!“.

 

Tja, das sind die Lehren auf dem Jakobsweg: „Heulen kannst Du immer noch, wenn es wehtut!“

Als wir eine frühe Mittagspause in einem kleinen Park am Ortsausgang von Boimorto machen, sind wir nicht allein. Ganz in der Nähe unserer Bank meditiert ein anderer Pilger und sofort kommt Hoffnung in mir auf: Vielleicht haben wir nun wieder Gesellschaft für die nächsten Tage! Es ist einfach schöner, wenn man ab und an eine Menschenseele trifft. Selbst, wenn es nur am Abend ist... 

 

Schnell kommen wir ins Gespräch und nicht mehr davon los. Johannes ist von Nürnberg nach Santiago gelaufen, hat in Portugal überwintert und geht den ganzen Weg nun auch zurück. Wahnsinn! Total cool! Ich bin begeistert! 

Wir reißen alle möglichen Themen an: Meditation, Reisen, Ernährung, Glaube, Sport (-studium), Beruf, Corona ... und verstehen uns blendend. 

 

Statt 30 Minuten machen wir letztlich fast 2 Stunden Pause und mein Vorsatz heute keine Zeit zu verschwenden ist dahin. Aber egal: „Heulen kann ich ja immer noch, wenn es weh tut!“

 

Wie schade, dass wir in unterschiedliche Richtungen weiter gehen. Ich glaube, ich könnte mich noch stundenlang mit Johannes weiter unterhalten. 

Als wir uns schließlich loseisen können, bin ich noch so in Gedanken, dass ich aus Versehen in die falsche Richtung gehe und damit ungewollt eine Abkürzung von 9 km nehme. Da diese als „neue Variante“ des Caminos besser ausgeschildert ist, als der „alte“ Weg, mache ich zwar nichts falsch, aber habe bis zur nächsten Herberge eine deutlich längere Strecke als geplant vor mir. Dazu ist sie auch viel langweiliger und landschaftlich ausgesprochen häßlich. 

Außerdem habe ich 1,5 Stunden weniger Zeit, als gedacht, denn die habe ich ja mit Johannes verbabbelt... 

 

Oh man, was für ein Tag!

Aber: „Heulen kann ich ja immer noch, wenn es wehtut!“

 

Bis wir schließlich in Salceda ankommen, ist es fast schon 18.00 Uhr. Gefühlt habe ich über 30 km hinter mir, denn auf der Variante habe ich mich nochmals gründlich verlaufen. 

Völlig platt stehen wir vor der Herberge – und ihren geschlossenen Türen. Immerhin treffen wir jemanden und können fragen, ob unser Eindruck nur täuscht oder tatsächlich wahr ist.

„Cerrada!“ – „Zu!“ heißt es. Und die nächste Übernachtungsmöglichkeit, so die Auskunft, sei nochmals 5 km weiter entfernt. 

 

Ich kann nicht mehr. Es ist schon so spät. Das Kindchen braucht was zu essen und ein Bett. Und ich eigentlich auch.

Jetzt tut es weh – darf ich jetzt endlich heulen???

Die Herbergsmutter erkennt sofort meinen Gemütszustand. Sie bietet an, uns zur nächsten Herberge zu fahren. Und ich sage dankbar zu. 

 

Das ist zwar eine echte Pilger-Todsünde, aber es ist heiliges Jahr. Das bedeutet, dass allen Pilgern, die mindestens 100 km gelaufen sind, ein vollständiger Ablass, also die Vergebung all ihrer Sünden, gewährt wird. Bestimmt auch die, sich 5 km fahren zu lassen nach über 30 km wandern. 

 

In St. Irene angekommen, teilen wir uns die Herberge mit zwei älteren Männern. Es gibt kein Geschirr und nur lauwarmes Wasser. Selbst das Licht wird zentral an- und ausgeschaltet. Eine derart einfache Unterkunft hatte ich noch nie!

 

Ich mache uns aus den letzten Resten der mitgeführten Lebensmittel schnell ein Abendessen und dusche dann, um das Kind so bald wie möglich ins Bett zu bringen. Insgeheim fürchte ich, dass wir aufgrund des nicht abschaltbaren Lichts und wegen Schnarchens kein Auge zu tun können, aber es kommt ganz anders: Wir schlafen beide so gut und tief, wie in keiner der Nächte davor. 

 

Wie war das gleich: „Heulen kannst Du noch immer noch, wenn es wehtut!“

7. Tag: Von Santa Irene nach Santiago de Compostela

Aller guten Dinge sind drei...

Am nächsten Morgen können wir nicht einmal frühstücken, denn abgesehen von einem Apfel sind alle unsere Vorräte aufgebraucht. Wir starten daher rasch und nehmen uns vor, das nächste Cafe zu plündern. Es dauert nicht lange, bis wir an einem Restaurant vorbeikommen, in dem bereits Pilger sitzen. Wir gesellen uns dazu und essen das leckerste „Toastado“ mit Marmelade und Käse, das es auf der ganzen Welt gibt. 

Schwäbisch wie eh und je, stecke ich den restlichen Käse ein. „Bezahlt ist bezahlt!“ und Brot werde ich bestimmt irgendwo noch kaufen können...“

 

Inzwischen ist der Camino del Norte auf den Camino Frances gestoßen. Das merkt man deutlich: Wir treffen im Vergleich zum bisherigen Weg unzählige Pilger. Einzelne Wanderer oder auch Paare oder Gruppen. Da wir mit Kinderwagen ein eher ungewöhnliches Gespann sind, werden wir immer wieder angesprochen. Auch von einem Paar, das aus Argentinien kommt, und auf Besuch in Europa einen Teil des Jakobswegs gelaufen ist.

Kurz vor Santiagos Flughafen stoßen wir auf eine Gruppe deutscher und spanischer Wanderer. Sie scheinen sehr fröhlich zu sein und so schließen wir uns an. Im nächsten Cafe machen die Peregrinos Pause, was uns sehr entgegenkommt. Brot haben wir nämlich immer noch nicht gefunden und eine „Tarta de Santiago“ – übrigens eine sehr saftige – ziehe ich dem Apfel mit Käse eindeutig vor. 

 

Als wir gerade am Aufbrechen sind, kommt unser spanischer Freund vom Küstenweg vorbei. Endlich denken wir daran, ein Erinnerungsbild zu schießen. Schließlich haben wir uns jetzt mehrere Tage gegenseitig begleitet...

Anfangs bleibe ich nach der Pause bei der Gruppe, merke aber bald, dass mir der große Trupp zu langsam ist. Wir düsen also alleine weiter Richtung Monte de Gozo und freuen uns tatsächlich sehr, die Türme der Kathedrale von Santiago in der Ferne zu sehen. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir durch die Gassen der Altstadt laufen und mit der Kathedrale unser Ziel erreichen. 

 

Viele Erinnerungen kommen mir auf diesen letzten Metern. 

Wie bin ich 2010 hier angekommen? Und wie 2019? 

Ich erinnere mich an die vielen Menschen, die mir von diesen beiden Pilgerreisen geblieben sind. An die gemeinsamen Erlebnisse, aber auch an verpasste Chancen.

 

Mein Herz ist erfüllt und gleichzeitig wehmütig. Dieses Mal komme ich hier an, ohne erwartet zu werden und niemand freut sich mit uns darüber, dass wir all die Anstrengung der Reise auf uns genommen haben. Ein klitzekleines bisschen Einsamkeit breitet sich in mir aus...

Als sich der größte Gefühlssturm gelegt hat, holen wir unsere Pilgerurkunden ab und kaufen für das Moggelchen ein Pilger-T-Shirt. Zurück auf dem Praza do Obradoiro vor der Kathedrale werden wir von derselben Dame auf ein Zimmer angesprochen, wie vor drei Jahren (Cinco Peregrino in der Rua do Vilar), und sagen gleich zu. Da kennen wir uns schon aus und wissen, was uns erwartet.

 

Wir machen uns in unserer Unterkunft frisch, kaufen ein paar Lebensmittel für die Fahrt zurück zu Malte und suchen und finden dann das schöne Restaurant „Carrilana“ für ein schnelles Abendessen. 

Das Kind bekommt einen riesigen Burger und ich eine leckere Quinoa-Gemüse-Bowl. Das werde ich definitiv in den nächsten Tagen „nachkochen“. So einfach und lecker und doch so gesund!

 

Nach dem Gottesdienst – leider ohne Botafumeiro – in dem wir uns segnen lassen, gibt es noch ein Eis als Nachtisch und dann heißt es für uns beide: Husch, husch, ins Bettchen! 

Ich hänge noch relativ lange meinen Erinnerungen nach, bevor ich irgendwann am frühen Morgen eindöse und schlafe.

Auf dem Rückweg...

Die Nacht auf Samstag ist kurz, denn zusätzlich ist es unheimlich laut in der Fußgängerzone und ich fürchte auch – immer diese Ängste! – ein wenig am Morgen den Bus zu verpassen oder möglicherweise wegen des Anhängers – echtes Sperrgut – nachzahlen zu müssen. Online-Buchungen machen mich nach wie vor nervös: Ich weiß nie, ob ich alles richtig gemacht habe und was mir für meine gemachten Kreuzchen abgeknöpft wird. 

 

Meine Sorgen sind aber wieder einmal unnötig, denn alles klappt wie am Schnürchen: Wir wachen rechtzeitig auf, das Kindlein macht bei allem „ohne Mullen und Knullen“ mit (ist Dr. Blutrich vielleicht zum Langschläfer mutiert?), die Zeitangaben bei Google für die Strecke zum Busbahnhof ist korrekt und der Hänger macht auch keine Schwierigkeiten. 

Hach, mir fällt ein Stein vom Herzen! 

Jetzt muss nur noch Malte unbeschadet am Busbahnhof in Ribadeo auf uns warten...

 

Am Bahnhof treffen wir einen der beiden Männer, die mit uns in der Herberge in Santa Irene war. Er ist erstaunt, dass wir auch schon da sind und freut sich über unseren Pilgererfolg.

 

3 Stunden fahren wir bis Ribadeo. Wenn man es so betrachtet, sind wir doch ganz schön weit gelaufen.

Malte hat während diesen 7 Tagen brav auf uns gewartet. Keines der Fenster ist eingeschlagen und die Räder sind auch noch da. Nur der Griff an der Tür der Heckgarage ist locker. Hat jemand daran gerüttelt? Ich kann es nur vermuten...

 

Da die Uhrzeit für einen zweiten Besuch am Playa de las Catedrales günstig steht und wir mit etwas Glück heute bei Ebbe durch die Felsen laufen können, düsen wir sofort los. Tatsächlich ist Ebbe und wir können zumindest an der einen Seite des Strandes die sonst im Meer liegenden Felsen besteigen.

Wieder in Ribadeo angekommen, säubere ich schnell den dreckigen Hänger, packe unsere Sachen aus, dusche uns beide, leere und fülle erneut unsere Tanks für die kommenden Tage und kaufe dann kräftig Lebensmittel ein, denn am Abend gabeln wir Johannes in der Nähe von Vilalba für eine Nacht als Besucher bei uns auf. 

 

Direkt am Jakobsweg finden wir an einem Restaurant einen guten Parkplatz, um Johannes ein zu laden, und einen weiteren, ruhigen am Friedhof, um zu übernachten. Johannes genießt die warme Dusche und die leckere Bowl, die wir für ihn zaubern. Zum Ausgleich hilft er mir danach die Gasflasche zu wechseln, die ausnahmsweise mal nicht mitten in der Nacht, sondern schon kurz vor dem zu Bett gehen leer wird. 

 

Erst da fällt mir ein, dass wir nur zwei deutsche Flaschen an Bord haben, die in Spanien und Portugal aber nicht gefüllt werden können. Es wird also noch eine kleine Herausforderung in den kommenden Tagen eine spanische Flasche zu erstehen und die übrige deutsche irgendwo unterzubringen.

 

Als das Kind nach ein paar neuen Maschinenkonstruktionen schließlich im Bett ist und schläft, quasseln wir uns noch bis Mitternacht durch. Johannes ist ein guter Zuhörer und ein sehr interessiertes und reflektiertes Gegenüber. Ich nehme viele Anregungen aus diesem Gespräch mit, über die ich die nächsten Wochen nachdenken kann...